Neues Rechtsgutachten zum Anspruch auf Leistungen der bariatrischen Chirurgie – Rechtsfragen und ethische Aspekte veröffentlicht. Die aktuelle Studienlage belegt, dass der zu erwartende Behandlungserfolg bariatrischer Operationen bei hochgradiger Adipositas vielfach den konservativen Behandlungsmöglichkeiten überlegen ist.
Adipositas ist eine chronisch-fortschreitende Krankheit, die mit ihrem hohen Rezidivpotential und der Vielzahl an Folge- und Begleiterkrankungen eine enorme Herausforderung für Patient:innen, Behandler:innen und das Gesundheitssystem darstellt. Das betrifft insbesondere die Therapie der morbiden Adipositas, also bei einem BMI von 40 und mehr. Während die Adipositaschirurgie international als evidenzbasierte Standardtherapie gilt, wird sie von den deutschen Krankenkassen jedoch immer noch als „Ultima-Ratio Therapie“ gesehen. Dieses führt zu einer Fehl- und Unterversorgung von Menschen mit morbider Adipositas.
Ein neues Rechtsgutachten zum Anspruch auf Leistungen auf die sogenannte bariatrische Chirurgie wurde nun vom renommierten Medizinrechtlers Prof. Dr. Stephan Huster im Auftrag der AG Adipositas des Bundesverband Medizintechnologie zusammen mit Johnson & Johnson und dem Gesundheitstechnologie-Unternehmen Medtronic erstellt und veröffentlicht. Im Gutachten heißt es, dass in Deutschland bei starkem Übergewicht so wenig operiert werde, sei in erster Linie auf die Genehmigungspraxis der gesetzlichen Krankenkassen zurückzuführen. Festzustellen seien hierzulande zudem starke regionale Versorgungsunterschiede. Während in Hamburg/Schleswig-Holstein vergleichsweise häufig operiert werde, nämlich 32,4 pro 100.000 Erwachsene, sind es in Rheinland-Pfalz nur 8,9.
Auf internationale Ebene werden Leistungen der bariatrischen Chirurgie deutlich öfter erbracht (beispielsweise Frankreich 76,9, Niederlande 91,8, Schweiz 71,3 pro 100.000 Erwachsene) im Vergleich zu Deutschland (27,5 Operationen pro 100.000 Erwachsene). Das geht unter anderem auf das vom Bundessozialgericht im Jahr 2003 aufgestellte „Ultima Ratio“-Prinzip zurück. Somit findet in Deutschland heutzutage keine flächendeckende, leitlinien- und bedarfsgerechte Versorgung der Patient:innen mit hochgradiger Adipositas statt.
Prof. Dr. Huster legt im Gutachten dar, dass das „Ultima Ratio“- Prinzip in der Adipositaschirurgie nicht mehr dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Spätestens ab einem BMI über 50 kg/m2 bestehe sogar eine Primärindikation zu einem adipositaschirurgischen Eingriff. Mit einer bariatrischen Operation, schreibt Huster in seinem Gutachten, „wird sowohl die Lebenserwartung der betroffenen Patient:innen als auch die Lebensqualität gesteigert, so dass ein Eingriff eindeutig gerechtfertigt erscheint“. Zudem wiesen die Patient:innen eine Krankheit auf, „die einer dringenden Therapie bedarf, um irreversible Folgeerscheinungen zu verhindern“. Es handele sich letztlich um eine Operation eines kranken Patienten, dessen Gesundheitszustand durch einen solchen Eingriff eindeutig gebessert werden könne. Man müsse die medizinische Evidenz nun unbedingt auch in der Rechtslage abbilden, fordert das Gutachten.
Kritik übt das Gutachten vor diesem Hintergrund insbesondere am Begutachtungsleitfaden des Medizinischen Dienstes Bund der Krankenkassen. Er unterliege einer Fehlinterpretation der Studienlage und gehe irrtümlich und ohne Belege von einer Wirksamkeit konservativer Behandlungsmethoden bei hochgradiger Adipositaserkrankung aus. Der aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft werde dabei nicht adäquat berücksichtigt. Der Begutachtungsleitfaden trage daher zur Streitanfälligkeit des Leistungsbereichs bei „und sollte überarbeitet werden“.
Ein aktuelles Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) (B 1 KR 19/21 R Klinikum S. gKAöR ./. AOK Bayern - Die Gesundheitskasse), öffnet die bisher starre Rechtsprechung. Gemäß diesem Urteil sei nicht mehr erforderlich, alle anderen Therapieoptionen - insbesondere die konservative Adipositas-Therapie - vor Inanspruchnahme der Adipositas-Chirurgie auszuschöpfen. Kriterien für eine Inanspruchnahme sind laut BSG-Urteil:
- die Erfolgsaussichten der nicht-invasiven Therapieoptionen,
- die voraussichtliche Dauer bis zu einem spürbaren Erfolg,
- das Ausmaß der Folge- und Begleiterkrankungen der Adipositas und
- die Dringlichkeit der Gewichtsreduktion.
Mit diesen vier Kriterien distanziert sich das BSG vom „Ultima Ratio“ -Grundsatz und ermöglicht die Adipositas-Chirurgie auch all jenen Betroffenen mit morbider Adipositas. Die Rechtsprechung basiert folglich auf dem aktuellen medizinischen Wissensstand, den gültigen Leitlinien und bestätigt die wesentlichen Punkte der rechtswissenschaftlichen und medizinischen Einschätzung der Autoren Prof. Stefan Huster, Prof. Mirko Otto und Prof. Arya Sharma.
Weitere Informationen finden Sie in der Pressemeldung vom BVMed.